e-Research

September 16, 2010
Ein Netzwerkgraph in ResearchGATE

Ein Netzwerkgraph in ResearchGATE

Netzbasiertes wissenschaftliches Arbeiten im digitalen Zeitalter

Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn hatte in seinem nicht unumstrittenen Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions (1962) die Wissenschaft als Wechselspiel zwischen Phasen der Normalwissenschaft und der wissenschaftlichen Revolutionen beschrieben. Er hatte dafür den Begriff „Paradigma“ eingeführt, unter dem er ein Denkmuster verstand, das die herrschende wissenschaftliche Orientierung einer Zeit prägt. Paradigmenwechsel kennzeichnen eine starke Veränderung des Blickwinkels auf wissenschaftliche Felder.

Jim Gray, ehemaliger Mitarbeiter von Microsoft Research und 1998 mit den Turing Award ausgezeichnet, hatte bedingt durch die rasche Entwicklung im IKT-Bereich ein neues, viertes Paradigma der Wissenschaften gesehen. Das erste wissenschaftliche Paradigma hätte sich demnach vor tausend Jahren entwickelt, die Wissenschaft wäre damals empirisch gewesen. Daraus hätte sich ein neuer Zweig zu einem zweiten Paradigma entwickelt, das sich auf Verallgemeinerungen und Modelle stützt – die Wissenschaft war theoretisch geworden. In den letzten beiden Jahrzehnten wäre abermals ein neuer Zweig entstanden. Dieses dritte Paradigma sei sehr stark rechenbetont („computational“) gewesen und hätte z. B. in der Simulation komplexer Systeme Anwendung gefunden. Im 21. Jahrhundert hätte sich wiederum ein neues Paradigma herausgebildet, das sehr stark von einer datenintensiven wissenschaftlichen Forschung geprägt sei. Diese neue e-Science würde nach Jim Gray verknüpft sein mit “a world of scholarly resources – text, databases, and any other associated materials – that were seamlessly navigable and
interoperable.”

Bei der Definition von e-Science wird in Großbritannien meist auf Sir John Taylor aus dem Jahre 2000 zurückgegriffen: „e-Science is about global collaboration in key areas of science, and the next generation of infrastructure that will enable it.“ In den USA hatte sich etwa zur gleichen Zeit der Begriff „Cyberinfrastructure“ herauskristallisiert, der vor allem rechenintensive Mechanismen im Umgang mit großen Datenmengen beschreibt (Dunn & Blanke, 2009). In Österreich hatte Nentwich (ÖAW, 2003) den ursprünglich von Wouters (1996) entwickelten Begriff „Cyberscience“ populär gemacht. Diese e-Science umfasst aber in erster Linie die Naturwissenschaften, die so genannten „harten” Wissenschaften. Erst ab 2005 begann man sich auch im Bereich der Geisteswissenschaften verstärkt damit auseinanderzusetzen. Anderson definierte 2007 im Bericht über den „Arts and Humanities e-Science Scoping Survey“ e-Science as „the development and deployment of a networked infrastructure and culture through which resources – be the processing power, data, expertise, or person power can be shared in a secure environment, in which new forms of collaboration can emerge, and new and advanced methodologies explored”. Um e-Science auf den gesamten Wissenschaftsbereich ausdehnen zu können, wurde „e-Research“ als Oberbegriff eingeführt, worunter man ganz allgemein verteilte, kollaborative, datenund informationsreiche Forschungsaktivitäten versteht.

Wie Jankowski in seinem von ihm herausgegeben Buch „E-Research: Transformation in Scholarly Practice“ (Routledge 2009) ausführt, könnte der verstärkte Einsatz von IKT zu großen Veränderungen im Forschungsprozess führen: „No less than a revolutionary transformation of the research enterprise is underway“.

Ursache dafür wären drei miteinander verknüpfte Stränge:

Zunehmende Computerisierung des Forschungsprozesses
Forschung wird zusehends in Form von verteilten Netzwerken von Forschern organisiert
Verstärkte Einbindung von Visualisierungstechniken

Auf dem Gebiet der Sozial-und Geisteswissenschaften sind in der Zwischenzeit besonders in Großbritannien viele Aktivitäten zu beobachten, wie e-Humanities, The Oxford eSocial
Science (OeSS) Project etc.

Soziale Netzwerke für Wissenschafter

Etwas abseits von den erfolgreichen sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Xing, LinkedIn etc., die auch im Wissenschaftsalltag Anwendung finden, wurden in den letzten Jahren auch eine ganze Reihe von sozialen Netzwerken speziell für die Wissenschaftszusammenarbeit entwickelt. Die Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald hatte ca. drei Dutzend derartiger Wissenschaftsnetzwerke recherchiert und folgende näher untersucht: Academia, AtmosPeer, BestThinking, Epernicus, LabRoots, myExperiment, Nature Network, Orwik, ResearchGATE, Scholarz, Sciencefeed und ScienceStage.
ResearchGATE (www.researchgate. net) ist eines der größten dieser Netzwerke, das neben den üblichen Kommunikationsfunktionen auch eine „Similar Abstract Search Engine (SASE)“ und einen Network Graph zur Verfügung stellt, der die Verbindungen der Kontakte, Gruppen und Publikationen visualisiert.

Ein weiteres vielversprechendes Netzwerk ist Mendeley (www.mendeley. com), eine europäische Entwicklung, die von Plugg, der European Startups Conference, 2009 zum „European Start-Up of the Year“ gewählt wurde. Mendeley legt den Schwerpunkt auf die Publikationen, das Motto lautet „organize, share and discover research papers“.

Zu den Hauptfunktionen gehören eine Literaturdatenbank, Management und Annotierung von Forschungspublikationen, ein Zitatgenerator sowie Funktionen für die Forschungskollaboration und zur Entdeckung von aktuellen Forschungstrends. In der Zukunft werden wohl die Computerwissenschaften immer stärker zu Partnern aller Wissenschaftszweige werden und wie Hey, Tansley und Tolle in der Zusammenfassung des Jim Gray gewidmeten Buches „The Fourth Paradigm: Data- Intensive Scientific Discovery“(2009) schreiben: „Not only are we seeing the maturing of data-intensive science, but we are also in the midst of a revolution in scholarly communication. This is driven not only by technologies such as the Internet, Web 2.0, and semantic annotations but also by the worldwide movement toward open access and open science.”

Aktuelle Konferenzen:
Science Online London 2010 (http://www.scienceonlinelondon.org/)
Digitale Wissenschaft 2010 (http://digitalewissenschaft.de/)

Quellen:
http://research.microsoft.com/en-us/collaboration/fourthparadigm/
http://www.geozon.info/2010/03/08/wissenschaftliche-netzwerke-teil-1-4/
http://digitalhumanities.org/dhq/vol/3/4
http://www.oii.ox.ac.uk/microsites/oess/
http://www.fiz-karlsruhe.de/escidoc_project.html?&L=1

Autor: Dr. Johann Stockinger

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